Die souveraene Leserin by Alan Bennett

Die souveraene Leserin by Alan Bennett

Autor:Alan Bennett [Bennett, Alan]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-02T16:00:00+00:00


Im kleinen Garten seines reizenden Hofdiensthäuschens aus dem siebzehnten Jahrhundert in Hampton Court saß Sir Claude Pollington und las. Vielmehr sollte er eigentlich lesen, aber stattdessen döste er über einer Kiste vertraulicher Dokumente, die ihm aus der Bibliothek von Windsor gesandt worden waren, ein Privileg, das ihm als altehrwürdigem Diener der Krone zustand, der inzwischen die neunzig überschritten hatte, aber angeblich immer noch an seinen Memoiren schrieb, die den Arbeitstitel Mühsal der Monarchie trugen.

Sir Claude war direkt nach dem Besuch der Privatschule von Harrow in den königlichen Dienst getreten, als achtzehnjähriger Page Georges V, und eine seiner ersten Aufgaben war es gewesen, wie er sich gern erinnerte, die Klebefalze anzulecken, mit denen dieser reizbare und pedantische Monarch seine Briefmarken in zahlreichen Alben zu befestigen pflegte. »Sollte es irgendein Problem geben, mein Erbgut zu bestimmen«, hatte er Sue Lawley einst in der Radiosendung Welche Platten nehmen Sie mit auf eine einsame Insel? anvertraut, »dann bräuchte man bloß hinter den Briefmarken in Dutzenden königlicher Alben zu sammeln, vor allem, wie ich mich entsinne, hinter den Marken von Tanna-Tuva, die Seine Majestät zwar vulgär oder gar gewöhnlich fand, die zu sammeln er sich aber dennoch verpflichtet fühlte. Was ganz typisch war für Seine Majestät… gewissenhaft bis zum Exzess.« Dann hatte er sich eine Aufnahme von Master Ernest Lough mit dem Lied O for the Wings of a Dove (›O könnt ich fliegen wie die Tauben dahin‹) gewünscht.

In seinem kleinen Salon drängten sich auf jeder freien Wandfläche gerahmte Photographien der verschiedenen königlichen Häupter, denen Sir Claude so treu gedient hatte. Da war er in Ascot, wie er dem König das Fernglas hielt; hier hockte er im Heidekraut, während Seine Majestät einen fernen Hirsch ins Fadenkreuz nahm. Dort trat er hinter Queen Mary aus einem Antiquitätengeschäft in Harrogate, wobei das Gesicht des jungen Pollington von einer eingepackten Wedgwood-Vase verdeckt wurde, die der hilflose Händler Ihrer Majestät widerwillig überlassen hatte. Und auch da war er zu sehen, diesmal im gestreiften Pullover als Teil der Besatzung der Yacht Nahlin auf jener schicksalhaften Mittelmeerkreuzfahrt, und die Dame mit der Seglermütze war eine gewisse Mrs. Simpson – dieses Photo kam und ging, jedenfalls war es nie zu sehen, wenn Königinmutter Elizabeth wieder einmal zum Tee hereinschaute.

Es gab nicht viele Ereignisse im Leben der königlichen Familie, derer Sir Claude nicht Zeuge geworden war. Nach seinen Diensten für George V. war er kurze Zeit im Haushalt Edwards VIII. beschäftigt gewesen, um dann nahtlos in den Dienst dessen Bruders George VI. überzutreten. Er hatte im königlichen Haushalt zahlreiche Ämter bekleidet und zuletzt als Privatsekretär der Queen gedient. Noch lange nach seiner Versetzung in den Ruhestand wurde er häufig um Rat gefragt; er verkörperte exemplarisch die höchste Vertrauensempfehlung der besseren Kreise, die sprichwörtlichen ›sicheren Hände‹.

Inzwischen jedoch zitterten diese Hände merklich, und auch in Sachen Körperhygiene war er weniger sorgsam als früher, sodass Sir Kevin selbst im duftenden Garten in seiner Nähe den Atem anhalten musste.

»Sollen wir hineingehen?«, fragte Sir Claude. »Dort könnte Tee serviert werden.«

»Nein, nein«, sagte Sir Kevin hastig. »Hier draußen ist es besser.



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